Der Lohmarer Holger Otto bestreitet zum ersten Mal den Köln-Marathon – mit einem Unterschenkel aus Karbon.
Im Herbst 2008 traf Holger Otto eine Entscheidung, die ihn zum Sportler machte. Der damals 40 Jahre alte Betriebswirt ließ sich im Oktober seinen Unterschenkel amputieren. Fünf Jahre später läuft Otto seinen ersten Marathon. Am Sonntag wagt er sich in Köln an die klassische Distanz über 42,195 Kilometer. Mit einem Unterschenkel aus Karbon.
Der Mann ist ein Sportlertyp, keine Frage. Mit fast 190 Zentimetern Länge etwas groß für einen Läufer, die aber eine exzellente Verteilfläche für gut 80 Kilogramm Gewicht bieten. Die schlanke Statur lässt Körperfett nur erahnen. Zuletzt hat der Lohmarer sein Trainingspensum kontinuierlich gesteigert. Jeden zweiten Tag legt er die Laufprothese an, mehr als 50 Kilometer pro Woche ist der 45-Jährige auf seinen Strecken unterwegs, oft auch mit Läufern der Betriebssportgruppe des Troisdorfer Sanitätshauses Rahm. Am letzten Sonntag vor dem großen Ereignis hat er noch mal eine Einheit über 30 Kilometer eingestreut, und die Nervosität steigt kontinuierlich an. Seine Vorbereitung unterscheidet sich also kaum von der vieler anderer Läufer, die sich der großen Herausforderung über gut 42.000 Meter stellen. Wie alle anderen horcht er in sich hinein, fragt sich, ob er genügend und richtig trainiert hat. Die Unterscheide zu diesen anderen liegen im Detail. „Als Läufer mit Prothetik“, sagt Otto, „muss ich mich besser organisieren“.
Somit wird er am Abend vor dem Marathon die Prothese mit besonderer Sorgfalt behandeln. Er wird sie ans Stromnetz anschließen, damit die Batterie der integrierten Vakuumpumpe über Nacht vollgeladen werden kann. Die Pumpe sorgt für Unterdruck im Prothesenschaft und damit für den festen Sitz, sie muss bei einer solchen Langzeitbelastung mehr arbeiten als normal. Er wird die Fernsteuerung zurechtlegen, mit der er, wenn es die Situation beim Lauf erfordert, die Pumpe zusätzlich aktivieren kann. Holger Otto wird eine weitere Kniekappe als Ersatz einstecken, die einen Luftabschluss zum Liner und Oberschenkel schafft. Der Liner ist ein Silikonstrumpf, der über den Amputationsstumpf gezogen wird und in Verbindung mit dem Unterdruck für eine sichere und optimale Verbindung von Stumpf und Prothesenschaft sorgen soll. Nicht nur der Mensch Otto kann ja schließlich versagen, sondern auch die Technik.
Seine Laufprothese, dieses C-Feder genannte Hightech-Gerät, will Otto erst kurz vor dem Start anlegen. Ob die Gehprothese in den Läuferrucksack passt, den er abgeben muss? Im Rennen dann wird er früher trinken als die meisten anderen Läufer. Flüssigkeitsverlust des Körpers beeinflusst den optimalen Sitz der Prothese. Im Lauf eines Tages gibt ein Körper zudem mehr Flüssigkeit ab. Die späte Startzeit des Kölner Marathons von 11.30 Uhr passt daher nicht in sein Konzept. „9 Uhr wäre für mich viel besser“, sagt Holger Otto.
Am Ende, hofft der Marathon-Debütant, wird er an alles gedacht haben, und dann wird er sein Abenteuer beginnen, zusammen mit mehr als 7.500 weiteren Ausdauersportlern. Fast ein viertel Jahrhundert lang hat Otto auf fast alles verzichtet, was als sportliche Betätigung durchgeht. Verzichten müssen. Seit einem Unfall konnte man das, was ihn ab dem rechten Knie abwärts auf den Beinen hielt, nicht mehr als normal funktionierendes Körperteil bezeichnen. 16 war er und unbekümmert, den Führerschein hatte er erst seit drei Monaten in der Tasche, als der junge Mann im Mai 1985 eine Situation im Straßenverkehr falsch einschätzte. Die verheerenden Folgen des schweren Unfalls mit dem Moped: Rechter Fuß und Unterschenkel waren zertrümmert und kaum noch als das zu erkennen, was sie einmal waren. Es folgten Operationen, die ihn wieder auf die Beine brachten – für die nächsten fast 25 Jahre mehr schlecht als recht.
Die Kunst der Mediziner konnte nicht verhindern, dass fortan alles, was mit Bewegung zu tun hatte, für Holger Otto auf bescheidenem Niveau stattfand. Und immer diese Schmerzen, diese chronischen Entzündungen, die wunden Stellen am zerstörten Unterschenkel, die immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalte, die hohen Medikamentengaben. Nicht nur das Gehen bereitete Probleme, selbst das Stehen war mühsam und beeinflusste die gesamte Motorik von Ottos Körper. Sein Beruf machte es ihm nicht leichter. Nach Betriebswirtschaftsstudium und Promotion stieg er 1998 in den Familienbetrieb ein. Schon ewig ist das Landgasthaus Naafs-Häuschen, zwischen Wahlscheid und Overath gelegen und seit 25 Jahren um ein Hotel erweitert, im Besitz der Ottos. Sohn Holger wurde Geschäftsführer des kleinen Unternehmens mit heute rund 45 Beschäftigten. Das ist viel Managementarbeit, das ist aber auch viel Gehen und viel Stehen – die Toleranz, den zerstörten Unterschenkel weiter als Körperteil zu akzeptieren, sank.
2008 war der Bypass, eine Arterie, die den Unterschenkel vom Oberschenkel aus mit Blut versorgt, wieder einmal zu. So konnte und sollte es nicht mehr weitergehen, und so entschloss Holger Otto sich dazu, den Unterschenkel abnehmen zu lassen. „Ein Hammer-Entscheidung“, sagt er, obwohl die Zeit dafür reif war. „Ein 40-Jähriger denkt anders darüber als ein 16-Jähriger“, weiß Otto, heute verheiratet und Vater von drei Kindern. „Welcher 16-Jährige, der das Leben noch vor sich hat, lässt sich schon den Unterschenkel amputieren, wenn es nicht sein muss?“
Beeinflusst hatten ihn auch die Paralympics in Peking, die Olympischen Sommerspiele der Behinderten. Otto sah, was ein Oskar Pistorius, ein Wojtek Czyz oder eine Katrin Green leisten können, begriff, zu welchen Leistungen Sportler mit Prothesen in der Lage sind. Schon wenige Monate nach der Amputation, im Frühjahr 2009, begann, was nun einen vorläufigen Höhepunkt hat. „Ich bin einfach losgelaufen“, erinnert sich der angehende Marathonläufer, „ich hatte natürlich einen erhöhten Bewegungsdrang“. Kein Wunder, wenn man ein geistig und körperlich aktiver Mensch ist, sich 25 Jahre lang aber kaum bewegen durfte.
Holger Otto hatte noch eine andere Motivation, viel zu laufen. Es bot die Möglichkeit, sich an dieses neue Körperteil heranzutasten, sich mit ihm anzufreunden. Es zu begreifen, zu prüfen, was damit möglich ist. Otto begann, sich für die Technik einer Beinprothese zu interessieren. Er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: „Die Grundlage dafür, dass eine Prothese optimal passt, ist, sich viel damit zu bewegen.“ Seine erste vom Januar 2009 hatte nicht gut funktioniert, er wechselte das Sanitätshaus. Noch vor der Amputation hatte er Josef Rahm kennengelernt, Geschäftsführer des Sanitätshauses Rahm, der im Naafs-Häuschen seinen Geburtstag feierte. An diesen Kontakt erinnerte sich Otto, und fortan war er fast jeden dritten Tag im großen Spicher Gesundheitszentrum des Unternehmens und erarbeitete sich mit spezialisierten Orthopädie-Technikern den optimalen Sitz seiner verschiedenen Prothesen – auch auf der Laufstrecke. „Am Anfang war ich nach 100 Metern platt“, erinnert sich Otto. Doch nun setzte ein, was er in der Nachbetrachtung als „Eskalation des Ehrgeizes“ wertet. Nur ein knappes Jahr Training und intensive Beschäftigung mit seinem neuen Unterschenkel brachten ihn schnell vorwärts. „Ende 2009 habe ich die zehn Kilometer geschafft, in 54 Minuten.“ Läufer wissen, dass diese Zeit alles andere als gemäßigtes Jogging-Tempo ist.
Wer so schnell läuft, muss auch ein Ziel für den ersten Marathon haben. Läuft er den Kilometer durchgängig in sechs Minuten, was er kann, wird Otto am Ende das Ziel nahe dem Kölner Dom nach rund vier Stunden passieren – eine Zeit, mit der er vollauf zufrieden wäre. Er weiß, dass die gebogene Feder aus Karbon unter dem Prothesenschaft ihn dabei unterstützt. „Sie verbraucht keinen Sauerstoff, sie ermüdet nicht, und sie gibt Energie ab.“ Und sie gibt nicht nur einen bestimmten Laufstil vor, sondern, wenn man aus ihr herausholen will, was sie kann, sogar eine bestimmte Geschwindigkeit. „Die liegt bei zehn bis elf Stundenkilometern“, weiß Holger Otto, „dann kann man sie optimal nutzen“. Ein weiterer Pluspunkt der Feder: Sie erleichtert das Laufen den Berg hinauf. Hat Otto einen Anstieg vor sich, verlagert er sein Gewicht etwas mehr auf das Bein mit dem künstlichen Körperteil. „Da geht es dann viel leichter hinauf.“
Mittlerweile haben offenbar auch Weltunternehmen wie Nike erkannt, dass Behindertensportler Werbepotenzial besitzen. Jede Feder braucht, je nachdem, was man macht, eine spezielle Sohle. Otto nutzt zum Langlauf einen groben Belag der amerikanischen Sportartikelfirma. Zusätzlich hat er sich noch 600 Gramm Taucherblei auf den Karbonfuß geladen, normalerweise ein wichtiges Utensil für Unterwassersportler. „Die Prothese ist ja leichter als ein echter Unterschenkel. Der Muskelaufbau in diesem Bein wäre anders als im anderen.“ Das wiederum würde den Laufstil beeinträchtigen.
Die Herausforderung des Marathonlaufs geht Holger Otto mit großem Respekt, aber durchaus selbstbewusst an. Vor der Amputation hat er sich oft geniert, Schwimmbad war passé, „ich habe immer ein wenig Verstecken gespielt“. Das Laufen hat ihn in seiner Körperlichkeit verändert. „Ich trete nun in einer anderen Rolle auf, in der Rolle des Sportlers.“ Es ist eine Rolle, die ihn stolz macht, in der er sich auch als Vorbild für Menschen mit ähnlichem Handicap sieht. Es ist die Rolle eines Menschen, der etwas wagt, was sich nicht viele Menschen zutrauen: 42.195 Meter an einem Stück zu laufen.