Patienten und ihr Schicksal

Mehr Sicherheit. Mehr Mobilität. Mehr vom Leben.

Elena, Orthopädietechnikerin bei rahm, versorgt täglich Prothesenträger. Nach einem Unfall 2015 ist sie plötzlich selbst betroffen und sieht sich mit den Herausforderungen konfrontiert, die sie zuvor eigentlich nur aus ihrem Arbeitsalltag kannte. Mit Hilfe – unter anderem von protheofit und rahm – stellt sie sich diesen Herausforderungen.

Im Dezember 2015 habe ich durch einen Unfall meinen rechten Unterschenkel verloren. Ich bin einfach im Krankenhaus aufgewacht und wurde völlig unvorbereitet damit konfrontiert dass mein Bein zu schwer verletzt war und amputiert werden musste.  Zuerst war ich einfach nur geschockt. Ich arbeite seit 2011 bei der Firma rahm und hatte viel Kontakt zu Menschen mit Amputationen. Ich habe gesehen wie gut man wieder laufen kann, wie erfolgreich man auch im Sport werden kann und dass man bis auf ein paar Einschränkungen fast normal leben kann. Als ich dann selbst betroffen war, war ich unendlich traurig und verzweifelt, trotz meiner vorherigen Erfahrungen mit Amputierten. Es ist doch etwas anderes selbst amputiert oder nur der „Versorger“ zu sein. Jedoch kann ich jetzt aus eigener Erfahrung als Betroffene sagen, dass man hier bei rahm und protheofit eine perfekte Rundumversorgung bekommt, sodass man schnellstmöglich wieder auf die Beine kommt und in sein altes Leben zurückfindet.

Zu Beginn wurde ich vor zwei elementare Fragen gestellt: Den Kopf in den Sand zu stecken oder aufstehen und schnell wieder laufen lernen. Natürlich habe ich mich für die zweite Option entschieden. Fitnessstudio, Krankengymnastik, Massagen und die protheofit füllten wochenlang meinen Terminkalender. In der protheofit habe ich wieder Muskulatur aufgebaut, viele Übungen zur Balance gemacht und gelernt der Prothese zu vertrauen. Mit den Therapeuten habe ich gemeinsam erkundet, was die Prothese alles kann und wie man am besten damit umgeht. Parallel dazu waren Gespräche mit anderen Betroffenen besonders hilfreich.

Im März 2016 hatte ich meine erste Prothese. Ich wollte so schnell wie möglich wieder in mein altes Leben zurück, arbeiten und wieder mobil sein, Sport machen und auf Konzerte gehen. Heute nach fast zwei Jahren kann ich all diese Dinge wieder machen, jedoch ist und war es ein steiniger Weg bis dahin und Rückschläge oder besser gesagt Ehrenrunden gehören mit dazu.

2012 wurde Birgit mehrfach am Rücken operiert. Leider kam es dabei zu Komplikationen und sie behielt eine teilweise Querschnittslähmung zurück. Von rahm wurde sie zunächst mit mechanischen Orthesen versorgt und kann zumindest am Rollator laufen. An eine Rückkehr in den Pferdesattel ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken.

Um ihre Lebensqualität zurück zu gewinnen schlug rahm-Orthopädietechnikermeister Günter Bieschinski ihr 2016 vor, das C-Brace®, ein neues Orthesengelenksystem von Otto Bock, zu testen. Bei protheofit trainiert Birgit seitdem regelmäßig. Mit Hilfe des C-Brace und viel Unterstützung durch die Physiotherapeuten lernt sie wieder zu laufen. Auf den Rollstuhl ist sie inzwischen kaum noch angewiesen und auch ihrem Ziel, ohne Gehhilfen laufen zu können, kommt Birgit immer näher.

2017 ging, mit Hilfe von protheofit, noch ein weiterer ihrer Träume in Erfüllung. Die protheofit Physiotherapeuten Sandra Wegmann und Patrick Punzet begleiteten sie bei ihren ersten Reitversuchen nach den Rückoperationen. Endlich saß sie wieder auf dem Rücken ihres Pferdes und konnte, fast ohne fremde Hilfe, reiten.

Dank des C-Brace, viel Training bei protheofit und der Unterstützung von rahm hat Birgit sich Schritt für Schritt ins Leben zurückgekämpft. Sie hat wieder eine Perspektive in ihrem Leben und auch ihrem neuen Ziel, alleine mit ihrem Pferd ausreiten zu können, steht in Zukunft nichts mehr im Weg.

Der 22 jährige Saeed Al Alawi hat mit Hilfe von protheofit eine ganz besondere Entwicklung hingelegt. Bei einem Autounfall wurde er schwer verletzt, ist beidseits oberschenkelamputiert. Die Rehabilitation bei solch einer Diagnose erfordert harte Arbeit seitens des Patienten.

Zu seiner ersten Trainingsstunde bei protheofit kam er 2015 noch in einem Rollstuhl. Heute – nur anderthalb Jahre später – läuft Saeed dank der Hilfe der Gehschultherapeuten und seiner enormen Willensstärke und Begeisterung für das Training nur noch mit einem Gehstock. Kurze Strecken (10 oder 20 m) schafft er sogar schon ganz ohne Unterarmgehstützen.

Nach einem Autounfall 2014 verlor er beide Beine oberhalb der Knie. Die Amputation wurde in Saeeds Heimat Dubai durchgeführt, aber die Wunde an einem Bein wollte nicht verheilen. Zum Schließen der offenen Stelle kam er dann 2014 zum ersten Mal nach Deutschland, um sich im Krankenhaus Merheim versorgen zu lassen. Dort entstand der Kontakt zu ansässigen Therapeuten sowie zur Firma rahm.

Die Wunde verheilte, Saeed bekam seine Interimsprothesen angepasst und war voller Tatendrang. Doch die Orthopädietechnik und Physiotherapie in Dubai entspricht nicht dem „Deutschen Standard“. Versorgungen mit Prothesen werden wesentlich seltener durchgeführt, Physiotherapeuten gibt es auf dem speziellen Gebiet (Gehschule für Prothesenträger) nicht und der nächste Orthopädietechniker ist vier Autostunden entfernt.

Saeed ist unzufrieden, er will eine bessere Versorgung! In Sozialen Medien wie Facebook und Instagram tauscht er sich mit anderen Prothesenträgern aus. Ein Freund aus Dubai, der selbst auch ein Bein verloren hat, machte ihn auf protheofit aufmerksam, erzählt er. Der Freund wurde in Deutschland mit Prothesen versorgt und hat dabei von einem neuen und einzigartigen Prothesentrainingszentrum gehört, selbst aber nicht dort trainiert.

Saeed ist neugierig und startet seine Recherche. Der Kontakt zu protheofit wurde ihm letztendlich über die Arabische Botschaft in Deutschland ermöglicht. 2015 flog er mit seinem Vater von Dubai hierher, um für 6 Monate in Deutschland zu leben und intensiv zu trainieren. „Wir erinnern uns noch an Saeeds erste Trainingsstunde. Er kam im Rollstuhl und konnte nur wenige Meter mit seinen Krücken laufen. Kein Vergleich zu heute! Er hat eine beeindruckende Entwicklung durchlaufen.“ erzählt das Team der protheofit.

In der protheofit und mit Physiotherapeuten im Krankenhaus Merheim trainiert Saeed neben dem Gehen vor allem seine Muskulatur. Das ist wichtig für ihn, damit sein Rumpf die Belastungen des Gehens mit einer Prothese durchhält. Außerdem sind bei seiner Oberschenkelamputation die Stümpfe recht kurz, sodass er viel Kraft benötigt, um seine Prothesen zu bewegen. Auch Balanceübungen sind ein zentraler Bestandteil von Saeeds Training, damit er stehen kann, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und sich an etwas festzuhalten.

Sein langfristiges Ziel ist ganz klar das Laufen ohne Unterarmgehstützen. Saeed hofft, dass er noch ein drittes Mal zu protheofit kommen kann, um weiter darauf hin zu arbeiten. In der Zwischenzeit wird er Zuhause in Dubai seinen Gang und seine Muskulatur optimieren. Dort trainiert er alleine im Fitnessstudio, ohne die Betreuung durch Physiotherapeuten, denn die hat er in Dubai nicht. Mit ein Grund dafür, warum er sich so für die Arbeit von Sandra Wegmann und ihren Kollegen und Kolleginnen interessiert. Saeed möchte sich in Dubai für die Verbesserung der Versorgung von Amputierten einsetzen, vielleicht sogar selbst irgendwann eine kleine Gehschule eröffnen.

Auch die Anpassung und Änderung der Prothesen ist in Dubai nicht ganz so einfach. Saeeds Definitivprothesen wurden deshalb bei rahm angepasst und gefertigt. Gemeinsam mit Orthopädietechniker-Meister Stephan Schneider hat er immer wieder anprobiert, getestet und geändert, bis seine Prothesen wirklich perfekt passten.

Für zwei Wochen ist er jetzt noch in Deutschland. Seinem letzten Tag fiebert er schon entgegen. Zum einen, weil es dann zurück in die Heimat zu Freunden und Familie geht, zum anderen, weil auf seinen letzten Tag zufällig auch das von protheofit angebotene Schwimmtraining fällt, an dem er unbedingt teilnehmen möchte. Seine beiden Genium X3 Beine sind wasserdicht, der Schwimmstunde steh also nichts im Weg. Es wäre das erste Mal für Saeed seit seiner Amputation. Wieder etwas Neues, das er mit seinen Prothesen ausprobieren möchte.

Im Training heute läuft Saeed zum ersten Mal über die Rampe im Außenbereich. Es kann gut sein, dass die Steigung noch etwas zu schwierig für ihn ist. Saeed will es aber trotzdem versuchen. Er sucht ständig nach neuen Herausforderungen und spornt sich selbst an. „Wenn ich es geschafft habe, bin ich stolz und freue mich!“ sagt er.
Und er schafft es tatsächlich. Zwar noch nicht ganz ohne Hilfe, aber das wird auch noch kommen.

Alles getreu seinem Motte, nothing is impossible.

Daniele Burani, geboren am 25.10.1976, erlitt am 8. Mai 2000 bei einem Arbeitsunfall auf schwerste Verletzungen am rechten Bein. Nach einem Martyrium von rund 25 Operationen wurde ihm 2012 der rechte Unterschenkel inklusive Knie amputiert. Im rahm Zentrum für Gesundheit & Mobilität lernt er wieder laufen. Wie es dazu kam.

Daniele Burani: „Ich habe als Stahlbauer auf dem Bau gearbeitet. Wir haben im Akkord Eisenmatten verlegt, die später einbetoniert werden. Die Katastrophe habe ich wie in Zeitlupe auf mich zukommen sehen. Ein Kollege hatte einen Stapel Eisenmatten nicht richtig am Seil des Kranes eingehängt. Der Kranführer schwenkte den Stapel über uns. Zuerst löste sich eine Seite des Mattenstapels. Ich bin weggelaufen, um mich in Sicherheit zu bringen, blieb aber mit dem rechten Fuß in einer bereits verlegten Stahlmatte hängen. Da löste sich auch die zweite Befestigung, und der Mattenstapel stürzte auf mein Bein. Der Kranfahrer ist geflüchtet. Man hat ihn nie mehr gesehen.

Ich erlitt einen offenen Schien- und Wadenbeinbruch. Zuerst habe ich kaum etwas gespürt. Der Schock. Doch dann kamen die Schmerzen. Im Krankenhaus Bensberg kam eine Infektion am Bein dazu. Die Berufsgenossenschaft schickte mich in die Unfallklinik Duisburg. Immer wieder habe ich versucht, meine Arbeit wiederaufzunehmen. Es ging nicht. Und dann stellte sich heraus: Ich hatte eine chronische Knochenentzündung. 2012 erklärten die Ärzte mir, dass ich das Bein abnehmen lassen muss, weil die Entzündung sonst zum tödlichen Risiko werden könnte. Sie gaben mir drei Monate Bedenkzeit. Das waren rückblickend die schlimmsten Monate meines Lebens. Ich entschied mich für das Leben und gegen mein rechtes Bein. Nach der Operation stellte sich heraus, was mir die Ärzte vorher schon als Möglichkeit angekündigt hatten: Mein Knie war bereits befallen und musste ebenfalls entfernt werden.

Danach folgten schwierige acht Monate. An eine Prothese war nicht zu denken, solange der Stumpf nicht verheilt war. Ich konnte mich nur mit Krücken bewegen. Viele halten diese schwierige Phase nicht aus und lassen sich früher eine Prothese anpassen. Das aber führt zu Dauerkomplikationen. Ich hielt durch und kam zu rahm. Der Orthopädiemeister Stephan Schneider hat sich sehr viel Mühe gegeben, bis meine Prothese wirklich passte. Immer wieder Anprobieren, Herr Schneider hatte immer ein offenes Ohr für alle meine Wünsche und Probleme. Im März 2013 bin ich nach einer ersten stationären Rehabilitation zum Geh- und Stehtraining ins rahm gesundheitszentrum gekommen. Bis Ende August absolviere ich eine ambulante Reha hier. Ich mache hier bis Ende August eine Physiotherapie und Gerätetraining, damit mein Rücken die Belastungen des Gehens mit einer Prothese verkraftet. Im September komme ich hoffentlich in die stationäre Reha nach Koblenz. Sie wird zwei mal vier Wochen dauern.

Ich bin mit einem C-Leg versorgt und komme gut damit klar. Ich will und kann dank Berufsgenossenschaft bei rahm bleiben. Ich bin Herrn Schneider und meiner Physiotherapeutin Sandra Wegmann sehr dankbar. Sandra Wegmann ist manchmal streng, aber sie ist auch sehr nett. Beide haben sehr viel für mich getan.“

Daniele Burani weiter: „Jetzt war ich zum ersten Mal im neuen ProtheoFit-Zentrum von rahm und habe mir die Videoanalyse angesehen. Eine erste Aufnahme, wie ich die Treppe heruntergehe. Und nach vier Wochen Training gibt es eine zweite Aufnahme, die über die erste drüber gelegt wird. So kann ich meinen Trainingserfolg sehen. Ich freue mich schon darauf.

Ich richte den Blick jetzt wieder nach vorn. Meine Rente ist in Vorbereitung. Ich möchte aber auch jeden Fall wieder arbeiten gehen und werde eine Berufsorientierung absolvieren. Es wird wohl eine sitzende Tätigkeit sein müssen. Ich weiß noch nicht welche, weil ich mein ganzes Leben lang nur auf dem Bau gearbeitet habe. Es wird sich aber etwas finden.

Auf die Frage, wie ich mit meinem Schicksal zurecht komme, sage ich: Es ist besser zu leben als tot zu sein. Davon war ich am Unfalltag nur wenige Meter entfernt. Ich liebe mein Leben, möchte das Beste draus machen und glücklich sein. Die Mitarbeiter von rahm begleiten mich auf diesem Weg. Zurzeit lebe ich noch bei meiner Mutter. Sie war und ist mir eine große Hilfe. Heute war ich auf Wohnungssuche und werde wohl bald wieder in eigenen vier Wänden wohnen.

Horst Erkenrath, (74) aus Pulheim bei Köln fährt Tiefschnee-Pisten mit schwierigsten Einstiegen von Arlberg bis Kanada, surft bei Windstärke sechs, wenn die Wellen im Veerse Meer Schaumkronen tragen, ist als Inline-Skater unterwegs – natürlich mit Renn-Skates mit fünf Rollen, die schneller laufen als normale Skates. An sonnigen Tagen sieht man ihn auf der Rhein-Promenade mit Rennrad – in gehobenem Tempo natürlich.

Was ist eigentlich „normal“?
Im Interview verblüfft Horst Erkenrath seinen Gesprächspartner mit einer schnellen Drehung seines linken Fußes – 180 Grad nach hinten. Das ist anatomisch unmöglich. Eigentlich. Doch Erkenrath ist nicht wie die Mehrheit. Schon deshalb, weil er im achten Lebensjahrzehnt sportlich Erstaunliches leistet. Aber auch aus einem anderen wichtigen Grund: Er trägt eine Oberschenkelprothese, da wo bis zu seinem 17. Lebensjahr sein linkes Bein war – „ein Genium-System von Otto Bock, mikroprozessorgesteuert“, erklärt er. Mobilitätsklasse 4 – die Höchste. Die bei rahm Zentrum für Gesundheit & Mobilität perfekt auf ihn angepasste Hightech-Prothese stellt sich in Echtzeit auf die Bewegungen des Trägers ein, lässt sich mit einer Fernbedienung auf unterschiedliche Bewegungsmodi einstellen,  erlaubt Treppensteigen im Wechselschritt, normale Bewegungen. Fast normal. Doch was ist bei diesem Mann normal, der mit 74 Leistungssportler ist?

„Mit Handicap wie ein Nichtbehinderter  zu leben, das ist Leistungssport“, das sagt Erkenrath allen, die sein Schicksal teilen und seinen Rat suchen.

Überflüssige Pfunde sucht man bei ihm vergeblich: flacher Bauch, schmale Silhouette in der engen blauen Strickjacke. Diese Form kann man in der Generation 70plus suchen. Für ihn ist das essenziell: „Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie mit einer Oberschenkelprothese ständig einen Rucksack mit vielleicht 20 Kilogramm mit sich herumtragen müssen, dann wird deutlich, was ich damit meine: Übergewicht ist eine der Hauptursachen dafür, wenn Prothesenträger irgendwann einmal immobil im Rollstuhl landen“, erklärt Erkenrath. Es ist schwer vorstellbar, dass er in diese Lage kommt, obwohl er für alle Fälle einen Rollstuhl im Keller hat.

Traumberuf Radrennfahrer
Sein Leben hat Erkenrath schon als Jugendlicher der Bewegung gewidmet. Radrenn-Profi hatte er als junger Mann werden wollen: „Mit Leuten wie Rolf Wolfshohl internationale Rennen fahren, das war meine Perspektive. Ich rechnete mir gute Chancen aus, es wenigstens bis zum Wasserträger zu bringen.“ Das sind die Schwerarbeiter in Radrennteams, die ihren Star bis zum Sieg tragen. Zu Rennen in Aachen ist er mit seiner Rennmaschine gefahren, um dort zu starten. Dieser Traum war zu Ende, als Erkenrath 17 war.

Der Junge aus der Kölner Altstadt erlitt im Schwarzwald einen Verkehrsunfall: Ein Auto erfasste ihn als Fußgänger bei einem Überholmanöver, die Wucht des Aufpralls schleuderte den Schwerverletzten auf den Acker. Oberschenkelbruch, Gasbrand-Infektion, dem Tode nah, mehrere Amputationen. Der andere war Schuld. Schicksal. Mehr sagt Erkenrath darüber nicht. Mitleid mit der eigenen Person ist seine Sache nicht.

Seine Geschichte geht weiter mit der ersten Fahrt, die er nach Ausheilung seiner Verletzungen mit einem Bein auf seinem Rennrad machte. „Irgendwie habe ich mir meine Rennmaschine um den Hals gehängt und bin damit mit Krücken auf die Straße.“ Irgendwie ist er auch auf das Rad gekommen, hat den Fuß seines nicht unversehrten  Beins „in das Körbchen am Pedal“ geschoben – und ist losgefahren. „Bis heute nutze ich die althergebrachten Rennhaken mit Riemen, weil ich hier normale Schuhe benutzen kann, mit denen ich nach dem Absteigen auch gehen kann. Zum Rennfahren benutze ich eine Prothese, die fünf Zentimeter kürzer ist. Der Fuß hat dabei keine Außenrotation und kann deshalb nicht mit der Kurbel des Rades kollidieren.“

Prothesen für alle Fälle
Methodisch untersucht er auftauchende Probleme eines Prothesenträgers und merzt sie entweder selbst oder mit Hilfe der Experten des Gesundheitszentrums Rahm aus, das ihn betreut. „Dabei hilft mir sicher auch meine Erfahrung als Maschinenbauingenieur“, meint Erkenrath, der seinen Ing. im Abendstudium machte und dann Jahrzehnte bei Ford arbeitete. In seiner Kellerwerkstatt schraubt er selbst an Prothesen für verschiedene Anwendungsfälle. Seine Ideen und Lösungen spiegelt er regelmäßig mit „seinem“ Orthopädietechniker bei rahm, der ihn langjährig betreut. Inzwischen hat Erkenrath eine spezielle Prothese zum Skifahren, die bereits beschriebene Variante fürs Radfahren und eine für das Windsurfen.

„Ich war wohl der erste Behinderte in Deutschland, der auf ein Board gestiegen ist.“ Gelernt hat er das Surfen im Fühlinger See. „Anfangs war ich mehr im Wasser als auf dem Board. Doch mein Lehrer sagte mir, dass es anderen auch so geht. Also habe ich weitergemacht.“ Das Surfen hat Erkenrath zuerst mit einer alten Holzprothese geübt. Doch diese löste sich im Wasser auf.

Die eigenen Grenzen
Fast scheint es, als hätte die Behinderung Horst Erkenraths Ehrgeiz, die eigenen  Grenzen auszuloten, erst richtig geweckt. So war es bei seinem Hausbau in den sechziger Jahren. „Die Finanzierung für einen barrierefreien Bungalow stand inklusive der notwendigen Bauarbeiten. Doch ich wollte wissen, ob ich das nicht auch selbst schaffe. “ Dieser Vorsatz wurde auf eine harte Probe gestellt, als er eines Tages 120 Sack Zement á 50 Kilogramm vom LKW auf die Baustelle bringen musste. Er hat den Rohbau mit nur drei Helfern, die tageweise da waren, erfolgreich zu Ende gebracht. So, wie er es sich selbst zu beweisen hatte.

So war es auch beim Tauchen im Urlaub im Club Med. „Da ich mit einem Bein schwamm, hatte ich einen höheren Grundumsatz als die anderen. Das hatte zur Folge, dass meine Luft schneller zu Ende war. Ich habe deshalb darum gebeten, eine Twinflasche wie die Tauchlehrer zu bekommen.“ Das Problem dabei ist das Gewicht: Erkenrath musste nachweisen, dass er damit auch ohne Hilfe auf das Tauchboot kam.  Wie auch immer: Er erbrachte den Nachweis und bekam den gewünschten Luftvorrat.

So war es bei einem Sechs-Tage-Schwimm-Marathon auf Sizilien, bei dem er mit 50 für den NRW-Behindertensportverband gestartet ist. „Man hatte mir vorher nicht gesagt, dass ich gemeinsam mit professionellen Kanalschwimmern antreten würde, die für viel Geld antraten.“ 120 Kilometer Schwimmen in sechs Tagen waren es. Erkenraths Mimik beim Erzählen lässt ahnen, dass dieser Marathon zu Wasser nicht das reine Vergnügen gewesen ist. Eine Folgeeinladung im Folgejahr hat er abgelehnt.

Heute schwimmt er zwei Mal in der Woche in der Sporthochschule Köln – rund zwei Kilometer sind es je einstündiger Trainingseinheit. „Eine Hälfte lege ich im Brustkraul zurück, die andere im Rückenkraul. Das ist wichtig für den Ausgleich im Rücken, denn das Gehen mit Prothese belastet die Wirbelsäule einseitig.“

Ted Ligety und schwarze Pisten
Für „sportbund-reisen“ war er langjährig als Skilehrer mit nicht behinderten Reisegruppen aktiv. „Damit werde ich jetzt aufhören, bevor mit die Teilnehmer weglaufen“, sagt er selbstironisch mit Blick auf sein Alter. Wie bereits gesagt: Bedauern der eigenen Person ist seine Sache nicht.

Der Mann ist selbstmitleidlos. Hochalpines Tiefschnee-Skifahren nennt er, der der Behinderten-Nationalmannschaft Ski-Nord und dem Leistungskader Ski-Alpin des Behindertensportverbandes Nordrhein-Westfalen angehört hat, „leicht“. Das ungläubige Gesicht des weniger Wintersport-affinen Gesprächspartners  kontert er mit dem kurzen Satz: „Ted Ligety fährt sich auch auf einem Ski warm!“ Nun denn!

Schwarze Pisten und Tiefschnee fährt Erkenrath bis heute. Er ist dabei mit Krückenski unterwegs. Der Keller ist voller Auszeichnungen dafür, dass er in ungezählten Fällen schneller als andere ins Tal abgefahren ist oder beim Langlauf die Ebene zügiger durchmessen hat als die Konkurrenz. Fährt er nordisch, so ist sein Handicap gar nicht erkennbar. Fortschritte im Prothesenaufbau erlauben auch das sogenannte Skating, den Schlittschuhschritt mit Doppelstock-Schub. Hier fährt er mit einer Prothese, die rund sechs Zeitmeter kürzer ist: „Der Fuß steht dabei auf 13 Grad Außenrotation“ – eine wichtige Insider-Information für alle Betroffenen.

Natürlich freut er sich über die Medienöffentlichkeit und die öffentliche Begeisterung, die Behindertensport vor allem bei den letzten Paralympics in London erfuhr. Wichtig ist Horst Erkenrath, „dass man in allen Lebensphasen auch mit Handicap neue Wege in Sport und Bewegung finden kann“.

Mit 65 Jahren lernte er das Inline-Skaten. Auch hierfür nutzt er seine Ski-Prothese und ist mit schnellen Renn-Skates unterwegs. „Die haben fünf Räder und lassen sich mit Prothese leichter fahren, weil sie nach vorn und hinten kippfester sind.“ Zuvor war Erkenrath vor Beginn der Langlaufsaison auf Skirollern unterwegs gewesen. „Inline-Skaten zu lernen, das fiel mir vor diesem Hintergrund leicht.“ Warum nun auch noch diese Sportart? „Eine Studentin der Sporthochschule hat ihre Diplomarbeit geschrieben und mich gefragt, ob ich mitmache.“

Stuntman mit Handicap
Überhaupt wurde und wird Erkenrath oft gefragt. Zum Beispiel, ob er als (amputierter) Stuntman im Film „Der Pott“ von Peter Zadek  mitwirkt: „Ich habe einen Schauspieler in der Rolle eines versehrten Kriegsheimkehrers gespielt, der bei einem Handgemenge einen Abhang herunterstürzt.“

Dieses Thema hat er auch mit nicht gespieltem Hintergrund kennengelernt. „Für Israel habe ich in einem Film der Sporthochschule Köln mitgewirkt, der jungen Soldaten, die im Sechs-Tage-Krieg Gliedmaßen verloren hatte, die Rehabilitation und das Weiterleben mit Prothese zeigen sollte.“

Regelmäßig besuchen ihn Menschen auf der Suche nach Lösungen für ihr Leben mit Handicap. „Im Vorgarten meines Hauses sehe ich schon, wie sie mir entgegenkommen.“ Nicht selten ist sein erster Hinweis, dass auf das Gewicht zu achten ist. Das Problem mit dem „Rucksack“, der Prothesenträger in noch viel stärkerem Maße belastet wie unversehrte Menschen. Der zweite Hinweis klingt wie sein Lebensmotto: „Mit Behinderung normal leben zu wollen, das ist Sport.“ Nicht jeder ist – wie Erkenrath – zum Athleten geboren. Aber er meint es auch nicht elitär. Es klingt mehr wie ein Appell: in Bewegung bleiben. So wie er mit 18, als er mit nur einem Bein wieder auf sein Rennrad gestiegen ist.

Horst Erkenrath – Stationen eines bewegten Lebens
•    Im Kölner Kunibertsviertel aufgewachsen
•    Mit 17 bereits vier Jahre Radrennen gefahren, Verkehrsunfall, Amputation des linken Oberschenkels.
•    Maschinenbaustudium in Abendkursen in der Ingenieurschule am Ubierring.
•    In den sechziger Jahren überwiegend selbst barrierefreien Bungalow in Pulheim gebaut.
•    70er-Jahre: wohl erster Oberschenkel-amputierter Windsurfer in Deutschland.
•    Mitglied der Behinderten-Nationalmannschaft Ski Nord und im Leistungskader BSNW Ski Alpin.
•    Fachwart für Radsport im BSNW.
•    80er-Jahre: Teilnahme an 120 Kilometer Schwimm-Marathon auf Sizilien.
•    2001: Für eine Diplomarbeit an der Sporthochschule  das Inline-Skaten erlernt
•    2011: Testete für Otto Bock das neuartige Genium-System. Wird betreut durch Experten des Gesundheitszentrums rahm.
•    Langjährige Mitarbeit als Skilehrer für „sportbund-reisen“.

Der Lohmarer Holger Otto bestreitet zum ersten Mal den Köln-Marathon – mit einem Unterschenkel aus Karbon.
Im Herbst 2008 traf Holger Otto eine Entscheidung, die ihn zum Sportler machte. Der damals 40 Jahre alte Betriebswirt ließ sich im Oktober seinen Unterschenkel amputieren. Fünf Jahre später läuft Otto seinen ersten Marathon. Am Sonntag wagt er sich in Köln an die klassische Distanz über 42,195 Kilometer. Mit einem Unterschenkel aus Karbon.

Der Mann ist ein Sportlertyp, keine Frage. Mit fast 190 Zentimetern Länge etwas groß für einen Läufer, die aber eine exzellente Verteilfläche für gut 80 Kilogramm Gewicht bieten. Die schlanke Statur lässt Körperfett nur erahnen. Zuletzt hat der Lohmarer sein Trainingspensum kontinuierlich gesteigert. Jeden zweiten Tag legt er die Laufprothese an, mehr als 50 Kilometer pro Woche ist der 45-Jährige auf seinen Strecken unterwegs, oft auch mit Läufern der Betriebssportgruppe des Troisdorfer Sanitätshauses Rahm. Am letzten Sonntag vor dem großen Ereignis hat er noch mal eine Einheit über 30 Kilometer eingestreut, und die Nervosität steigt kontinuierlich an. Seine Vorbereitung unterscheidet sich also kaum von der vieler anderer Läufer, die sich der großen Herausforderung über gut 42.000 Meter stellen. Wie alle anderen horcht er in sich hinein, fragt sich, ob er genügend und richtig trainiert hat. Die Unterscheide zu diesen anderen liegen im Detail. „Als Läufer mit Prothetik“, sagt Otto, „muss ich mich besser organisieren“.

Somit wird er am Abend vor dem Marathon die Prothese mit besonderer Sorgfalt behandeln. Er wird sie ans Stromnetz anschließen, damit die Batterie der integrierten Vakuumpumpe über Nacht vollgeladen werden kann. Die Pumpe sorgt für Unterdruck im Prothesenschaft und damit für den festen Sitz, sie muss bei einer solchen Langzeitbelastung mehr arbeiten als normal. Er wird die Fernsteuerung zurechtlegen, mit der er, wenn es die Situation beim Lauf erfordert, die Pumpe zusätzlich aktivieren kann. Holger Otto wird eine weitere Kniekappe als Ersatz einstecken, die einen Luftabschluss zum Liner und Oberschenkel schafft. Der Liner ist ein Silikonstrumpf, der über den Amputationsstumpf gezogen wird und in Verbindung mit dem Unterdruck für eine sichere und optimale Verbindung von Stumpf und Prothesenschaft sorgen soll. Nicht nur der Mensch Otto kann ja schließlich versagen, sondern auch die Technik.

Seine Laufprothese, dieses C-Feder genannte Hightech-Gerät, will Otto erst kurz vor dem Start anlegen. Ob die Gehprothese in den Läuferrucksack passt, den er abgeben muss? Im Rennen dann wird er früher trinken als die meisten anderen Läufer. Flüssigkeitsverlust des Körpers beeinflusst den optimalen Sitz der Prothese. Im Lauf eines Tages gibt ein Körper zudem mehr Flüssigkeit ab. Die späte Startzeit des Kölner Marathons von 11.30 Uhr passt daher nicht in sein Konzept. „9 Uhr wäre für mich viel besser“, sagt Holger Otto.

Am Ende, hofft der Marathon-Debütant, wird er an alles gedacht haben, und dann wird er sein Abenteuer beginnen, zusammen mit mehr als 7.500 weiteren Ausdauersportlern. Fast ein viertel Jahrhundert lang hat Otto auf fast alles verzichtet, was als sportliche Betätigung durchgeht. Verzichten müssen. Seit einem Unfall konnte man das, was ihn ab dem rechten Knie abwärts auf den Beinen hielt, nicht mehr als normal funktionierendes Körperteil bezeichnen. 16 war er und unbekümmert, den Führerschein hatte er erst seit drei Monaten in der Tasche, als der junge Mann im Mai 1985 eine Situation im Straßenverkehr falsch einschätzte. Die verheerenden Folgen des schweren Unfalls mit dem Moped: Rechter Fuß und Unterschenkel waren zertrümmert und kaum noch als das zu erkennen, was sie einmal waren. Es folgten Operationen, die ihn wieder auf die Beine brachten – für die nächsten fast 25 Jahre mehr schlecht als recht.

Die Kunst der Mediziner konnte nicht verhindern, dass fortan alles, was mit Bewegung zu tun hatte, für Holger Otto auf bescheidenem Niveau stattfand. Und immer diese Schmerzen, diese chronischen Entzündungen, die wunden Stellen am zerstörten Unterschenkel, die immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalte, die hohen Medikamentengaben. Nicht nur das Gehen bereitete Probleme, selbst das Stehen war mühsam und beeinflusste die gesamte Motorik von Ottos Körper. Sein Beruf machte es ihm nicht leichter. Nach Betriebswirtschaftsstudium und Promotion stieg er 1998 in den Familienbetrieb ein. Schon ewig ist das Landgasthaus Naafs-Häuschen, zwischen Wahlscheid und Overath gelegen und seit 25 Jahren um ein Hotel erweitert, im Besitz der Ottos. Sohn Holger wurde Geschäftsführer des kleinen Unternehmens mit heute rund 45 Beschäftigten. Das ist viel Managementarbeit, das ist aber auch viel Gehen und viel Stehen – die Toleranz, den zerstörten Unterschenkel weiter als Körperteil zu akzeptieren, sank.

2008 war der Bypass, eine Arterie, die den Unterschenkel vom Oberschenkel aus mit Blut versorgt, wieder einmal zu. So konnte und sollte es nicht mehr weitergehen, und so entschloss Holger Otto sich dazu, den Unterschenkel abnehmen zu lassen. „Ein Hammer-Entscheidung“, sagt er, obwohl die Zeit dafür reif war. „Ein 40-Jähriger denkt anders darüber als ein 16-Jähriger“, weiß Otto, heute verheiratet und Vater von drei Kindern. „Welcher 16-Jährige, der das Leben noch vor sich hat, lässt sich schon den Unterschenkel amputieren, wenn es nicht sein muss?“

Beeinflusst hatten ihn auch die Paralympics in Peking, die Olympischen Sommerspiele der Behinderten. Otto sah, was ein Oskar Pistorius, ein Wojtek Czyz oder eine Katrin Green leisten können, begriff, zu welchen Leistungen Sportler mit Prothesen in der Lage sind. Schon wenige Monate nach der Amputation, im Frühjahr 2009, begann, was nun einen vorläufigen Höhepunkt hat. „Ich bin einfach losgelaufen“, erinnert sich der angehende Marathonläufer, „ich hatte natürlich einen erhöhten Bewegungsdrang“. Kein Wunder, wenn man ein geistig und körperlich aktiver Mensch ist, sich 25 Jahre lang aber kaum bewegen durfte.

Holger Otto hatte noch eine andere Motivation, viel zu laufen. Es bot die Möglichkeit, sich an dieses neue Körperteil heranzutasten, sich mit ihm anzufreunden. Es zu begreifen, zu prüfen, was damit möglich ist. Otto begann, sich für die Technik einer Beinprothese zu interessieren. Er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: „Die Grundlage dafür, dass eine Prothese optimal passt, ist, sich viel damit zu bewegen.“ Seine erste vom Januar 2009 hatte nicht gut funktioniert, er wechselte das Sanitätshaus. Noch vor der Amputation hatte er Josef Rahm kennengelernt, den inzwischen verstorbenen Geschäftsführer von rahm Zentrum für Gesundheit & Mobilität, der im Naafs-Häuschen seinen Geburtstag feierte. An diesen Kontakt erinnerte sich Otto, und fortan war er fast jeden dritten Tag im großen Spicher Gesundheitszentrum des Unternehmens und erarbeitete sich mit spezialisierten Orthopädie-Technikern den optimalen Sitz seiner verschiedenen Prothesen – auch auf der Laufstrecke. „Am Anfang war ich nach 100 Metern platt“, erinnert sich Otto. Doch nun setzte ein, was er in der Nachbetrachtung als „Eskalation des Ehrgeizes“ wertet. Nur ein knappes Jahr Training und intensive Beschäftigung mit seinem neuen Unterschenkel brachten ihn schnell vorwärts. „Ende 2009 habe ich die zehn Kilometer geschafft, in 54 Minuten.“ Läufer wissen, dass diese Zeit alles andere als gemäßigtes Jogging-Tempo ist.

Wer so schnell läuft, muss auch ein Ziel für den ersten Marathon haben. Läuft er den Kilometer durchgängig in sechs Minuten, was er kann, wird Otto am Ende das Ziel nahe dem Kölner Dom nach rund vier Stunden passieren – eine Zeit, mit der er vollauf zufrieden wäre. Er weiß, dass die gebogene Feder aus Karbon unter dem Prothesenschaft ihn dabei unterstützt. „Sie verbraucht keinen Sauerstoff, sie ermüdet nicht, und sie gibt Energie ab.“ Und sie gibt nicht nur einen bestimmten Laufstil vor, sondern, wenn man aus ihr herausholen will, was sie kann, sogar eine bestimmte Geschwindigkeit. „Die liegt bei zehn bis elf Stundenkilometern“, weiß Holger Otto, „dann kann man sie optimal nutzen“. Ein weiterer Pluspunkt der Feder: Sie erleichtert das Laufen den Berg hinauf. Hat Otto einen Anstieg vor sich, verlagert er sein Gewicht etwas mehr auf das Bein mit dem künstlichen Körperteil. „Da geht es dann viel leichter hinauf.“

Mittlerweile haben offenbar auch Weltunternehmen wie Nike erkannt, dass Behindertensportler Werbepotenzial besitzen. Jede Feder braucht, je nachdem, was man macht, eine spezielle Sohle. Otto nutzt zum Langlauf einen groben Belag der amerikanischen Sportartikelfirma. Zusätzlich hat er sich noch 600 Gramm Taucherblei auf den Karbonfuß geladen, normalerweise ein wichtiges Utensil für Unterwassersportler. „Die Prothese ist ja leichter als ein echter Unterschenkel. Der Muskelaufbau in diesem Bein wäre anders als im anderen.“ Das wiederum würde den Laufstil beeinträchtigen.

Die Herausforderung des Marathonlaufs geht Holger Otto mit großem Respekt, aber durchaus selbstbewusst an. Vor der Amputation hat er sich oft geniert, Schwimmbad war passé, „ich habe immer ein wenig Verstecken gespielt“. Das Laufen hat ihn in seiner Körperlichkeit verändert. „Ich trete nun in einer anderen Rolle auf, in der Rolle des Sportlers.“ Es ist eine Rolle, die ihn stolz macht, in der er sich auch als Vorbild für Menschen mit ähnlichem Handicap sieht. Es ist die Rolle eines Menschen, der etwas wagt, was sich nicht viele Menschen zutrauen: 42.195 Meter an einem Stück zu laufen.